Turbulente Strömungen
von Dr. Wolfram Schmidt
Flüssigkeiten und Gase unterscheiden sich von Festkörpern dadurch, dass unterschiedliche Bereiche sich unter dem Einfluss von Kräften mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen können. Wenn man beispielsweise eine feste Metallkugel wirft, wird diese durch die von der Hand ausgeübte Kraft als Ganzes beschleunigt. Man kann die Kugel auch in beide Hände nehmen und mit der linken Handfläche gerade die entgegengesetzte Kraft wie mit der rechten Handfläche ausüben. Dadurch wird eine sogenannte Scherspannung erzeugt. Eine Metallkugel widersteht einer solchen Spannung, solange sie nicht extrem groß wird und die atomaren Bindungskräfte überwindet. Füllt man aber Wasser in einen Kunststoffbeutel und verschließt diesen fest, wird man feststellen, dass der Inhalt des Beutels unter einer Scherspannung nachgibt. Das liegt daran, dass die Wassermoleküle nicht fest aneinander gebunden, sondern frei beweglich sind. Dennoch ist die Bewegung des Wassers nicht beliebig, sondern gehorcht physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Zum Beispiel kann Wasser nicht einfach verschwinden oder aus dem Nichts entstehen, außer man öffnet den Beutel wieder und schüttet einen Teil des Wassers weg oder füllt welches unter dem Wasserhahn nach. Das ist im Wesentlichen das Prinzip der Massenerhaltung. Zusätzlich zur Masse bleiben auch der Impuls, also Masse mal Geschwindigkeit der Flüssigkeit, und die Energie erhalten, sofern keine Kräfte von außen einwirken.
Ist die Flüssigkeit nicht einfach in einen Behälter eingeschlossen, sondern kann mehr oder weniger frei strömen, so gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Strömungsformen. Flüssigkeiten (und auch Gase) habe eine sogenannte Zähigkeit. Honig hat zum Beispiel eine große Zähigkeit, was man sofort merkt, wenn man einen Löffel in das Honigglas eintaucht: Der Widerstand gegen Bewegung ist groß. Wasser (etwa in Form von Kaffee in einer Tasse) lässt sich hingegen viel leichter mit einem Löffel in Bewegung versetzen. Langsame Strömungen von zähen Flüssigkeiten zeichnen sich durch eine hohe Regelmäßigkeit aus und werden laminar genannt. Bei wachsender Geschwindigkeit der Strömung gewinnt jedoch die Trägheit, also die Neigung in einem Bewegungszustand zu verharren, Oberhand über die dämpfende Wirkung der Zähigkeit. Infolgedessen ändern sich die Strömungseigenschaften grundlegend. Während die Flüssigkeit in einer laminare Strömung eher in Schichten mit leicht unterschiedlichen Geschwindigkeiten fließt, kommt es bei steigender Strömungsgeschwindigkeit zu Verwirbelung, dich sich zunehmend chaotisch verhalten. Dadurch ändert sich die Geschwindigkeit abrupt sowohl über kleine Distanzen als auch innerhalb kurzer Zeitabstände. Im Extremfall besteht die Strömung nur noch aus Wirbeln unterschiedlichster Größe, die sich quasi zufällig immer wieder neu bilden und verschwinden. Man spricht dann von einer turbulenten Strömung.
Obwohl solchen Strömungen auf den ersten Blick jegliche Regelmässigkeit fehlt, zeigen experimentelle Messungen, dass zeitlich oder räumlich gemittelte Eigenschaften sehr wohl bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen. Im Unterschied zu den grundlegenden physikalischen Gesetzen wie etwa der Erhaltung der Masse, die in allen Strömungen die Bewegung der Flüssigkeit oder des Gases an jedem Ort und zu jeder Zeit mathematisch bestimmen, gibt es phänomenologische Gesetze für verschiedene Erscheinungsformen der Turbulenz. Das bekannteste derartige Gesetz ist das sogenannte Zwei-Drittel-Gesetz, das die mittlere Geschwindigkeit (bei Wirbeln ist das die Geschwindigkeit der Drehbewegung der Flüssigkeit) mit ihrer Größe verknüpft. Wissenschaftler versuchen derartige Gesetze aber nicht nur aus Experimenten abzulesen, sondern deren Ursprung auch theoretisch zu erklären. Das gelang zum Beispiel dem russischen Mathematiker Kolmogorov in den 1940er Jahren, als er erkannte, dass der Zusammenhang zwischen der mittleren Wirbelgröße und -geschwindigkeit aus der Energieerhaltung folgt.
Im Alltag begegnet man häufig turbulenten Phänomenen. Nicht nur in nach menschlichen Maßstäben großen Systemen wie beim Wetter oder bei Meeresströmungen findet sich Turbulenz. Sie ist auch im kleinen Maßstab anzutreffen, etwa in Luftströmungen, wie sie oberhalb einer brennenden Kerze oder Zigarette zu beobachten sind. Auch das Rauschen, das man in der Nähe von Gasleitungen, beim Ein- und Ausatmen, oder beim Abhören des Herzens wahrnehmen kann, ist ein Strömungsgeräusch, dessen Auftreten sich durch turbulente Bewegungen erklären lässt. In der Astrophysik gibt es ebenfalls vielfältige Erscheinungsformen der Turbulenz. So wird in der Sonne Wärme aus dem Inneren durch turbulente Konvektion an die Oberfläche transportiert. Unter Konvektion versteht man das Aufsteigen von wärmerem Gas durch den Auftrieb. Dieser Vorgang läuft auch in der Erdatmosphäre ab. Turbulenz tritt darüber hinaus in den galaktischen Gas- und Staubwolken auf, in denen sich neue Sterne bilden. Man geht heute sogar davon aus, dass Turbulenz eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Sternen spielt. Schließlich scheint nicht nur der interstellare Raum teilweise turbulent zu sein, auch für das noch viel dünnere gasförmige Material zwischen den Galaxien, insbesondere in großen Galaxienhaufen, gibt es Anzeichen von Turbulenz. Folglich ist Turbulenz ein Phänomen, das uns überall im Universum begegnet.